Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks e. V.
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"Eine Zukunft ohne Fachregeln ist undenkbar"

Jan Redecker im Interview

Jan Redecker im Interview

Jan Redecker ist seit über vier Jahren für den ZVDH im Bereich Fachtechnik tätig. Gestartet hat er im Juli 2020 als technischer Referent. Ab 1. Oktober wird er als Geschäftsführer dem Bereich Fachtechnik beim ZVDH vorstehen. Im Interview erklärt Redecker, wie der Fachbereich Technik beim ZVDH künftig aufgestellt sein wird, welche Themen im Fokus stehen und wie sich die personelle Situation gestaltet.

Herr Redecker, Sie sind seit über vier Jahren für den ZVDH im Bereich Fachtechnik tätig und haben kürzlich die Leitung des neu gegründeten Bereichs Forschung und Wissenschaft übernommen. Welche Herausforderung ist seitdem besonders im Gedächtnis geblieben?

Ja, da gibt es eine Herausforderung, die besonders heraussticht. Und zwar die Begleitung eines technischen Merkblatts von der Entstehungen bis zur Veröffentlichung, konkret das Merkblatt zur Bemessung von Entwässerungen. Die große Kunst ist es, ein Puzzle aus vielen kleinen Bausteinen zu einem stimmigen Gesamtbild zu bringen. Angefangen beim Erfassen des Ist-Zustandes, über das Erarbeiten des Soll-Zustandes und bis dahin, es mit Normung, Rechtsprechung und den Belangen, Wünschen und Problemen der Dachdecker in Einklang zu bringen. Das war schon ein ziemlicher Kraftakt.

Ihre Karriere begann im elterlichen Betrieb, wo Sie Ihre Ausbildung zum Dachdecker absolvierten. Wie haben diese frühen Erfahrungen Ihre Herangehensweise an die komplexen Themen der Fachtechnik geprägt?

Das ist eine schöne Frage, und ich möchte sie nutzen, um eine Lanze für die Ausbildung zu brechen. Derzeit schrecken viele junge Leute vor einer Lehre in einem handwerklichen Beruf zurück. Die Gründe dafür sind sicher vielschichtig, aber da ich den gleichen Prozess durchlebt habe, kann ich für mich nur sagen, dass eine handwerkliche Ausbildung viele Vorteile bietet: Man verdient früh eigenes Geld und lernt verantwortungsvolles Umgehen damit. Gleichzeitig lernt man, sich im Team zurechtzufinden, sich zu behaupten, aber auch zurückzustecken und gestärkt aus den Situationen hervorzugehen. So entwickelt man Selbstbewusstsein. Eine Ausbildung bringt neben Fachkenntnissen auch die Vorbereitung auf das Leben und ist mit anschließender Qualifikation mitnichten das Ende des Berufslebens, sondern kann der Beginn ganz neuer Wege sein. Durch meine Ausbildung habe ich den Grundstein für meine berufliche und persönliche Entwicklung gelegt und kann auf die erlernte und ausgeübte Praxis zurückgreifen. Das hilft mir dabei, komplexe theoretische Ansätze nachzuvollziehen und zu verstehen, welche Auswirkungen diese auf die Praxis haben.

Sie haben nach Ihrer Meisterprüfung 2013 Bauingenieurwesen studiert und anschließend als Bauleiter gearbeitet. Wie hat dieses breite Spektrum an Erfahrungen Ihre Arbeit beim ZVDH beeinflusst?

Da mich der Bau schon immer interessiert hat, wollte ich mein Wissen in diese Richtung erweitern. Durch meine Ausbildung habe ich schon viel gelernt und konnte während des Studiums und der anschließenden Tätigkeit als Bauleiter meine praktischen Erfahrungen um die Theorie erweitern. Das machte mich zu einem passenden Kandidaten für die Arbeit beim ZVDH: Durch das Studium kann ich Theorie und Praxis verbinden, aber auch wissenschaftliche Sachverhalte verarbeiten. So kann ich auch in den DIN-Ausschüssen das Dachdeckerhandwerk sachkundig vertreten.

Sie betreuen mehrere Fachausschüsse, darunter Blitzschutz, Entwässerungen, Großformatige Elemente, Metall und Solarenergie. Gibt es hier konkrete Neuerungen, die sich auf das Fachregelwerk auswirken?

Konkret noch nicht. Das Merkblatt Entwässerung ist ja bereits Anfang 2023 erschienen und die Bearbeitung anderer Themen war dringend notwendig. Die Fachausschüsse haben sehr erfolgreich gearbeitet, wurden doch dieses Jahr zahlreiche Regelwerksteile veröffentlicht. Und weitere werden in Kürze folgen. Hier ist also alles im Fluss. Wichtig war uns weiterhin, die Zusammenarbeit mit dem ZVSHK, also den Klempnern, zu verbessern und sowohl die Menschen hinter den Regelwerken als auch die beiden koexistierenden Regelwerke einander näherzubringen. Und das ist sehr gut gelungen. Ein Beweis dafür ist die gute Zusammenarbeit beim Thema „Befestigung von Solaranlagen auf Metalldächern“. Hier haben es beide Verbände geschafft, sich auf ein Vorgehen zu einigen. Geplant ist, dazu ein gemeinsames Werk zu veröffentlichen, sozusagen die ersten Früchte der Zusammenarbeit.

Welche Bedeutung hat die Modernisierung des Fachregelwerks für die gesamte Berufsorganisation des Dachdeckerhandwerks, und wie tragen Ihre Bemühungen dazu bei?

Ein Regelwerk, das sich nicht weiterentwickelt, schafft sich irgendwann selbst ab. Unser Regelwerk lebt vom Input der gesamten Berufsorganisation, es ist ein Werk von Dachdeckern für Dachdecker. Durch die 17 ZVDH-Fachausschüsse mit knapp 150 ehrenamtlichen Fachausschussmitgliedern wird dieses Werk fortlaufend überarbeitet und damit automatisch modernisiert. Die bestehende digitale Version des Regelwerks hilft schon sehr dabei, sich in dem komplexen Werk zurecht zu finden. Ein gutes Beispiel ist die neue Hilfe im Fachregelwerk „Nachweisfreie Konstruktionen“. Diese vereinfacht einen komplexen Sachverhalt, indem die notwendige „Nachweisfreie Konstruktion“ durch ein kurzes Frage- und Antwortspiel schnell und zuverlässig gefunden werden kann, anstatt sich diese aus knapp 40 Abbildungen selbst erarbeiten zu müssen. Ein großer Vorteil in dieser schnelllebigen Zeit. Und die Bemühungen der Abteilung Technik werden künftig verstärkt darauf abzielen, das Auffinden von Informationen zu erleichtern.

Seit Mai 2024 leiten Sie innerhalb der Fachtechnik den neuen Bereich Forschung und Wissenschaft. Welche Gründe waren ausschlaggebend, um diesen neuen Bereich einzurichten?

Wie eben schon erwähnt, muss sich ein technisches Fachregelwerk ständig weiterentwickeln, Inhalte hinterfragt und Neuerungen geprüft werden. In einer schnelllebigen Zeit scheint die anerkannte Regel der Technik nicht mehr so ganz hineinzupassen. Wo heute Informationen „Just in Time“ benötigt werden und fast täglich neue Produkte oder Produktarten entstehen, blickt die anerkannte Regel der Technik noch ganz entspannt in die Vergangenheit und beschreibt Bewährtes. Und das ist mehr als wichtig! Wir brauchen, gerade in dieser stürmischen Zeit, einen sicheren Hafen. Trotzdem wirkt der Hafen zurzeit wie eine angezogene Handbremse. Der neue Bereich Forschung und Wissenschaft soll genau da ansetzen und die Handbremse lösen. Gedacht ist durch selbst initiierte, vielleicht sogar selbst durchgeführte wissenschaftliche Untersuchungen das Regelwerk auf breitere Fundamente zu stellen und so auch eine zukunftsfähige anerkannte Regel der Technik zu liefern.

Welche konkreten Projekte und Initiativen haben Sie in dieser kurzen Zeit auf den Weg gebracht?

Ein konkretes Projekt hat mit zur Gründung des Bereichs geführt. Ein Forschungsvorhaben zum Thema Indachanlagen. Im Rahmen dieses Forschungsvorhabens sollen viele offene Fragen zur komplexen Bauweise geklärt, und das Dachdeckerhandwerk in die Lage versetzt werden, dem Verbraucher eine sichere 2-in-1-Lösung anbieten zu können. Damit kann ein Betätigungsfeld der Zukunft erschlossen werden. Das Projekt ist noch in einem sehr frühen Stadium. Zurzeit wird die dafür notwendige Projektskizze erstellt und nach Projektpartnern gesucht.

Ein Ziel des Forschungsprojekts ist es, gebäudeintegrierte Photovoltaik-Anlagen hinsichtlich Regensicherheit zu überprüfen. Warum ist diese Frage aktuell so wichtig? 

Weil die Regensicherheit in unserem Regelwerk an die Ausführung nach dem Selbigen gekoppelt ist. Viele der neuen Produkte weisen allerdings Eigenschaften oder Merkmale auf, die nicht damit übereinstimmen. Und da die gebäudeintegrierten Anlagen die Dacheindeckung flächig ersetzen, müssen diese Anlagen auch die Funktion der Dachhaut übernehmen. Im Rahmen des Projekts soll ein Lösungsansatz gefunden werden, wie damit umzugehen ist. Denn man kann ja schwer sagen, dass bspw. eine Anlage mit offenen Fugen einer Dacheindeckung mit Überlappungen oder Verfalzungen gleich zu setzen ist.

Wie sehen Sie die Rolle der Forschung und Wissenschaft in der Weiterentwicklung der Dachdeckerbranche?

Ich sehe im Bereich Forschung und Wissenschaft eine große Rolle für die Dachdeckerbranche. Das ist sicherlich Neuland, was wir damit betreten. Aber wir können sicher sagen, dass die Ergebnisse bei der Orientierung helfen. Dadurch kann die Bearbeitung technischer Themen früher, ressourcenschonender und vor allem zielgruppenorientierter angegangen werden. Für den Dachdecker heißt das: früher mehr Sicherheit.

Schwerpunkthemen werden dabei sicherlich folgende Themen sein:

1.      Solartechnik aufgrund der momentanen Marktdynamik

2.      Retention aufgrund der Gegensätzlichkeit zur Fachregel, Wasser möglichst schnell vom Dach zu bekommen.

3.      Nachhaltigkeit aufgrund zum Beispiel von sortenrein zurückbaubaren Dachaufbauten

4.      Arbeitsschutz - Materialsubstitute, Grenzwertfestlegungen, etc.

5.      Materialbeschaffenheit - Mehr Vielfalt für mehr Resilienz bei Rohstoffknappheit


Um all das zu stemmen, ist ein gut ausgebildetes und engagiertes Team notwendig. Wie sieht die personelle Struktur Ihrer Abteilung derzeit aus?

Das stimmt und deswegen suchen wir bereits seit längerem weitere technische Referenten. Hinzu kam der Weggang von Christian Anders, dem bisherigen Bereichsleiter Technik und Regelwerk, der sich nach 17 Jahren als Mitarbeiter des ZVDH ab dem 01.10.2024 neu orientieren möchte. An der Stelle möchten wir uns für die gemeinsame Zeit bedanken und ihm alles Gute für die kommenden Aufgaben wünschen. Wenn ein so erfahrener Kollege das Team verlässt, ist das natürlich ein herber Verlust. Er hat die Regelwerksarbeit lange mitgeprägt und zum Schluss seiner aktiven Zeit noch die Weichen in Richtung „anwenderfreundliches Regelwerk“ gestellt. Die Anwenderhilfe „Nachweisfreie Bauteile“ ist sein letztes Werk, basierend auf einer Idee des zuständigen Ausschusses, die in der Fachöffentlichkeit hohen Anklang findet. Genau an dieser Stelle wird die Abteilung Technik den Faden aufnehmen und weiterspinnen. Deswegen freuen wir uns über eine junge Dachdeckermeisterin, die viel Potenzial mitbringt und in der Abteilung Technik als technische Referentin anfangen wird. Weiterhin kooperieren wir mit einer privaten Wirtschaftshochschule, der International Business School (CBS) und betreuen als Praxispartner drei Jahre lang zwei Studierende im Bereich Wirtschaftsingenieurwesen während des dualen Studiums. Wir bilden die praktischen Aspekte des Studiums ab, die die Studenten 3 Tage pro Woche die Woche beim ZVDH erlernen. Ab 01.09.2024 beginnen drei junge Menschen in der Abteilung Technik ihren Dienst. Und unser Team freut sich schon riesig, mit den dreien loszulegen. Und weitere Verstärkung wird noch gesucht, um all unseren Herausforderungen gerecht zu werden.

Sie sind auch in mehreren DIN-Ausschüssen aktiv, zum Beispiel in mehreren DIN-Normen rund um das Thema Metalldach, aber auch in Normungsvorhaben für die Montage von PV-Anlagen auf Dächern. Welche Bedeutung haben Normen und Standards für die Weiterentwicklung der Fachtechnik?

Manchen Leuten zu viel, manchen Leuten zu wenig. Normen haben eine große Bedeutung, wenn sie wirklich mit allen Stakeholdern erarbeitet werden. Im besten Fall wird unsere fachliche Expertise gehört und fließt in die Normungsarbeit ein. Leider wird unserer Beurteilung oft nicht gefolgt, und wir müssen uns schonmal der Norm anpassen. Ohne hier eine große Diskussion vom Zaun brechen zu wollen: man muss auch kompromissfähig sein. Die Normung sorgt für ein gewisses Niveau in der Baubranche, und das wiederum führt zu mehr Sicherheit, beispielsweise bei der Verwendung von Baustoffen. Je mehr wir von unserem Wissen in der Normung einbringen können, desto besser steht das Regelwerk da, desto sicherer können unsere Kollegen die Regeln anwenden und so eine Weiterentwicklung ermöglichen, da die Fachwelt auf unser Wissen zurückgreift und daran mitwirkt.

Sie haben die klassische Materialgarantien um die innovative Materialgarantien ergänzt. Was bedeutet das und welche Vorteile bietet dies für die Branche?

Das ist mit eine der ersten Ideen, die ich für den neuen Bereich hatte. Der grundlegende Ansatz der Materialgarantie, Produkte hervorzuheben, die nach den anerkannten Regeln der Technik, also unserem Regelwerk zu verarbeiten sind, ist und bleibt eine Größe in der Branche. Da sind wir aber auch direkt wieder beim Kernthema: Neuartige Produkte können diese Vorgaben zum Teil nicht erfüllen und dementsprechend auch nicht die Materialgarantie erhalten. Die innovative Materialgarantie soll diese Lücke schließen und den fehlenden Erfahrungsbereich durch eine Haltbarkeits- und Beschaffenheitsgarantie über 10 Jahre abdecken. Das ist die eine Änderung im Vergleich zur sechsjährigen Materialgarantie. Die zweite und weitaus wichtigere Änderung ist ein zusätzliches Datenblatt. Mit diesem werden individuell in Kooperation mit dem Hersteller alle Kennwerte, die der Dachdecker benötigt, gesondert festgehalten und vertraglich verankert. Der Dachdeckerbetrieb hat damit die Möglichkeit, das neuartige Produkt besser einschätzen und dann auch einsetzen zu können. Der Vorteil, dass der ZVDH viel früher Einfluss auf die Entwicklung der Produkte nehmen kann, kommt dann der gesamten Branche zugute. Neue Produkte kommen wesentlich zielgruppenorientierter in den Markt als bisher.

Ab dem 1. Oktober werden Sie die Geschäftsführung des Bereichs Fachtechnik übernehmen. Welche Ziele haben Sie sich für die Zukunft dieses Bereichs vorgenommen?

Ganz wichtig: Die anerkannten Regeln der Technik im Dachdeckerhandwerk stehen derzeit von verschiedenen Seiten unter kritischer Prüfung. Es wird hinterfragt, ob diese Regelwerke noch zeitgemäß sind. Dieses Hinterfragen ist wichtig, denn ohne Reflexion und Anpassung gibt es keine Weiterentwicklung. Gleichzeitig ist diese Entwicklung auch alarmierend. Denn was könnte eine sinnvolle Alternative zu Regelwerken sein, die auf jahrzehntelanger praktischer Erfahrung basieren und bewährte Methoden festhalten? Dies fortzuspinnen, überlasse ich mal der Fantasie des Lesers. Für mich ist klar: Eine Zukunft ohne diese etablierten Regeln ist undenkbar. Unser Ziel muss es sein, diese Fachregeln weiterzuentwickeln und sicherzustellen, dass sie auch in Zukunft die Basis unseres Handwerks bilden. Dabei müssen wir offen für Neues und bereit zu Kompromissen sein. Wenn es uns gelingt, unsere fast hundertjährige Erfahrung mit aktuellen, wissenschaftlichen Erkenntnissen zu kombinieren und die Fachregeln durch praxisorientierte, leicht zugängliche Informationen weiter zu stärken, können wir als Branche gestärkt aus diesem Prozess hervorgehen. So machen wir das Dachdeckerhandwerk fit für die Zukunft.

 Das ausführliche Interview hören Sie hier im aktuellen ZVDH-Podcast

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